Vor der Stille

Ankunft

„Nach zweihundert Metern links abbiegen auf Berghofweg“, übertönt die Navigations-App das Autoradio. 

„Da-“, spricht jetzt die Reporterin ihre nächste Interviewpartnerin an und zieht die Silbe in die Länge, „niela.“ Wahrscheinlich hatte sie keine Zeit, sich vorzubereiten und bringt jetzt die Namen durcheinander. Ich schalte das Radio ab und imitiere sie: „Da-“. 

Ziehe ich dabei gerade die Mundwinkel nach oben? Ich dachte, für ein A muss man den Mund weit öffnen. Ich versuche es noch einmal mit weit geöffnetem Mund: „Da-“.

„In fünfzig Metern haben Sie Ihr Ziel erreicht.“

Ich fahre um eine Kurve und sehe den Hof. Davor stehen ein paar Menschen. Bei der Einfahrt kommt eine Frau auf mein Auto zu.

„Willst du zum Kurs?“, fragt sie durch das geöffnete Autofenster.

„Ja“, sage ich.

„Herzlich willkommen, ich bin die Franzi“, sagt sie.

„Hilda“, sage ich, „Flussmeier.“

„Bist du zum ersten Mal bei uns?“

„Ja.“

„Parke bitte dort neben der Wiese.“

Zehn, fünfzehn Autos stehen in einer Reihe. Es ist kein Kennzeichen aus meiner Region dabei. Überhaupt kann ich keines aus Österreich erkennen. Ich parke zwischen einem Auto mit Berliner und einem mit Bozener Kennzeichen, beende die Navigations-App am Smartphone und öffne die E-Mail-App: zwei neue Nachrichten, von Thea. Mein Puls pocht in den Fingern, dort wo das Smartphone aufliegt. Soll ich die Nachrichten einfach ungelesen löschen? Oder erst nach dem Kurs lesen? Wieso habe ich die Mailbox überhaupt noch einmal aufgemacht? Meine Finger drücken gegen die Schutzhülle. Ich schwitze, gleich rutscht mir das Smartphone aus der Hand. Ich lese den Nachrichtenverlauf: 

„Kannst du am Wochenende am Podium einspringen?“, hat Thea gefragt.

„Ich bin ab 18. April wieder erreichbar“, hat meine Abwesenheitsnotiz geantwortet.

„Gut, dann nicht. Wo bist du?“, hat Thea geschrieben. 

Ich schlucke, schalte das Smartphone ab und breche mir noch ein Stück Schokolade aus der Tafel in der Mittelkonsole. Ich schließe die Augen und drücke die Schokolade mit der Zunge gegen den Gaumen. Der Puls pocht noch immer. Die Schokolade schmilzt schnell. Ich könnte den Rest der Tafel hineinschmuggeln. Ich ziehe den Schlüssel ab, hole den großen Wanderrucksack aus dem Kofferraum, schnalle den Regenschirm außen am Rucksack fest. Franzi kommt noch einmal zu mir und erklärt mir, dass ich mich im Hauptgebäude anmelden muss. Das nächste Auto fährt durch die Einfahrt zum Hof und sie verabschiedet sich.

 

Stube

Anmeldung Frauen steht auf dem Schild über dem Eingang. Durch eine Holztür betrete ich den Raum. Vor einem Tisch in der Mitte der Stube hat sich eine Schlange gebildet. Zwei Frauen nehmen uns Teilnehmerinnen parallel auf. Ich stelle mich an. Sechs, sieben Frauen sitzen ringsum an Tischen, vertieft, schreibend, für sich, mit dem Gesicht zur Wand. 

Endlich komme ich an die Reihe. Ich nehme Platz.

„Sind Sie eine neue oder alte Schülerin?“, fragt die Frau, die mir gegenüber sitzt.

„Neue“, sage ich.

„Füllen Sie den bitte aus“, sie gibt mir einen Fragebogen, „und kommen Sie dann noch einmal hierher.“

Ich nicke. Der Fragebogen ist auf weißem Papier gedruckt, auf dem Tisch liegen zwei Stapel, einer in Weiß, der andere in Blau. Ich setze mich an einen der Tische mit Blickrichtung gegen die Wand. Wie schon bei der Online-Anmeldung lege ich wieder meinen Suchtmittelkonsum offen. Ich verspreche, die Regeln zu beachten. Bei den Fragen nach meiner psychischen Verfassung und meiner aktuellen Lebenslage halte ich mich kurz. Zum Schluss soll ich eine Kontaktperson angeben. Denise ist die einzige, die weiß, dass ich hier bin, also schreibe ich ihren Namen hin.

Ich stelle mich wieder beim Aufnahmepult an. Vor mir fragt eine Frau eine andere: „Hast du schon einmal an so einem Kurs teilgenommen? Dürfen wir uns wirklich nicht einmal in die Augen blicken?“

Ich setze mich und gebe mit dem Fragebogen mein Smartphone, meine Geldtasche und meinen Autoschlüssel ab. Die Teilnehmerin neben mir legt einen weißen Fragebogen und ihren Autoschlüssel auf den Tisch; sie habe alle Wertsachen im Auto gelassen. Ich bin mir sicher, dass sie lügt. Ich bemühe mich, nicht zu ihr hinüber zu schauen. Sie wird nach dem Kennzeichen ihres Autos gefragt. Sie kommt aus meinem Bezirk. Ich will nichts über die anderen Teilnehmerinnen erfahren. Sie hat lange schwarze Haare.

Die Frau, die mir gegenüber sitzt, sagt: „Sie schlafen in Zimmer F3 in Bett B. Um 17 Uhr treffen wir uns alle wieder hier zu einem Einführungsvortrag.“

 

Zimmerkolleginnen

Ich betrete Zimmer F3. Eine Frau kniet auf dem Bett neben der Tür und bezieht einen Polster. Mit einer Hand hält sie den Stoff um ein Knopfloch fest, die andere Hand streckt sie mir entgegen – „Vanessa.“ 

„Welches ist denn Bett B?“, frage ich, während ich schon den Klebebandstreifen mit dem Buchstaben an dem Bettgestell in der linken Zimmerecke sehe. Schräg darüber befindet sich das einzige Fenster. „Darauf habe ich gar nicht geachtet“, sagt Vanessa und stellt fest, dass sie auf dem falschen Bett sitzt. Ihres steht auf der anderen Seite des Fensters, in der rechten Zimmerecke. Vanessa steht auf, wandert von Bett A nach Bett C und sagt: „Decken und Polster sind draußen am Gang im Schrank.“ Sie macht eine Kopfbewegung zur Tür.

Die Türen des alten Holzschranks schließen nicht mehr richtig. Eine ältere Frau kommt aus einem der hinteren Zimmer, lächelt mich an und geht an mir vorbei. Ich nehme einen Polster, eine Daunendecke und eine Schafwolldecke und gehe zurück ins Zimmer.

„Hast du schon einmal so einen Kurs besucht?“, fragt Vanessa.

„Nein, und du?“

„Nein“, sagt sie.

„Wie hast du davon gehört?“

„Von einer Studienkollegin.“ 

„Was studierst du?“

„Psychologie.“

„Da macht man so etwas?“

„Wir waren gemeinsam in einem Seminar zu Gesundheitspsychologie. Sie hat ein Referat über Stressbewältigung gehalten. Es ging um Achtsamkeitsmeditation, um Mindfulness Based Stress Reduction. Das beruht anscheinend alles auf Vipassana.“

„Habt ihr das auch ausprobiert?“

„Ja, einen Bodyscan.“

„Was ist das?“

„Man versucht, nacheinander die einzelnen Körperteile zu spüren. Ich glaube, das ist dem recht ähnlich, was wir hier lernen. Und das Atmen spielt eine Rolle.“ 

„Ich bin schon gespannt.“

„Und du, wie kommst du hierher?“

„Eine Freundin hat mich darauf gebracht. Sie hat vor ein paar Jahren so einen Kurs besucht und am dritten Tag abgebrochen. Sie wusste nicht, ob es einfach nichts für sie ist oder ob es ein schlechter Zeitpunkt für sie war.“

„Hast du dich vorbereitet?“

„Ich habe ein paar Mal versucht, eine Stunde zu sitzen.“

„Und wie ist es dir gegangen?“

Die Zimmertür wird geöffnet, eine Frau hält die Klinke und eine große Plastiktasche mit Decken und Polster in der einen, einen Rollkoffer in der anderen Hand. Über ihre Schulter hängt eine Handtasche. Sie sieht uns an, grüßt, winkt ab, als wir anbieten ihr zu helfen, und stellt alles auf das Bett neben der Tür. Mit einem Blick prüft sie den Buchstaben am Bettfuß, dann dreht sie sich zu uns. 

„Ich bin A-lex“, sagt sie, „und ich habe Bett A, wie schön!“ Für jedes A zieht sie die Unterlippe weit nach unten. „Ich stelle gerade mein Leben auf den Kopf, ich habe gekündigt“, sagt sie. „Mein Freund hat schon vor ein paar Monaten seinen Managerjob hingeschmissen. Wir wollen raus aus der Wirtschaft. Ich lasse mich jetzt zur Energetikerin ausbilden. Letztes Jahr habe ich mit Yoga begonnen. Das mit dem Meditieren ist nach und nach dazugekommen.“ 

Die Unterlippe bewegt sich mehr als die Oberlippe, wenn Alex spricht.

„Ich mag es so gern, in andere Welten abzutauchen. Letztens war ich bei einem Traumreise-Wochenende, aber so etwas Krasses wie hier habe ich noch nie gemacht. Sich freiwillig wegsperren lassen von der Welt, darauf muss man erst einmal kommen. Ihr wart auch noch nie hier, oder?“  

„Nein“, sagen Vanessa und ich gleichzeitig.

„Ich musste extra Kleidung kaufen, ich hatte fast nichts Dunkles, Einfärbiges, außerdem trage ich am liebsten Leggings. Ich finde gar nicht, dass die aufreizend sind, aber wenn sie meinen, dass es uns hilft. Ich freue mich auf die Jogginghosen, und fotografieren ist ohnehin nicht erlaubt.“

Ihre Mundwinkel zeigen nach unten. Die Oberlippe ist leicht gewölbt und liegt wie eine Brücke über dem Gesprochenen. 

„Das Smartphone wird mir fehlen, aber es ist schon gut, einmal darauf zu verzichten. Wenn wir es nicht abgeben müssten, wären wir ständig in Versuchung. Glaubt ihr, dass alle die zehn Tage durchhalten? Ich habe gehört, dass immer jemand abbricht.“ 

Zieht sie manchmal die Wangen nach innen? So, als würde sie die Lippen zum Pfeifen oder Küssen formen, sie von sich weg nach vorne schieben und vor ihrem Körper sprechen lassen.

„Ich habe Taschentücher, Schmerztabletten und Tampons in Mengen mitgebracht. Bedient euch, wenn ihr etwas braucht! Ich belege diese Hälfte von dem Regal, ja?“

Ich nicke und Alex räumt Kleidung in das Regal, das zwischen ihrem und meinem Bett an der Wand montiert ist. Sie nimmt eine Uhr aus dem Koffer und legt sie um das Handgelenk. „Wir haben nur noch zehn Minuten bis zum Einführungsvortrag“, sagt sie. Aus den anderen Zimmern hört man Betten knarzen und Stimmen murmeln. Draußen am Gang treffen immer noch Teilnehmerinnen ein. „Die werden uns schon holen“, sage ich. Wir beeilen uns mit dem Einräumen unserer Sachen in die wenigen Regale im Zimmer.  

Bett D ist schon gemacht: blaue Satinbettwäsche auf weißem Leintuch. Daneben liegt ein Rollkoffer, und auf dem Nachttisch warten Schlafmaske und Wecker. Keine von uns geht auf unsere Zimmerkollegin ein. Wie heißt sie? Kann ich über eine Woche mit jemandem in einem Zimmer wohnen, ohne ihren Namen zu kennen? Wie wird es zu viert in einem Zimmer sein, ohne zu reden? Müssen wir noch irgendetwas absprechen? Wir dürfen dann ja gar nicht mehr interagieren. Geht das überhaupt, keinen Blickkontakt zu haben? Auf die Schuhe der anderen schauen, hat im Internet jemand empfohlen. Ein Gong ertönt. 

 

Einführungsvortrag

Die Stube füllt sich. An einem der Tische am Rand des Raums sitzt die Frau mit den langen schwarzen Haaren, die aus meinem Bezirk. Sie blickt zur Wand. Habe ich sie schon einmal getroffen? Eine Frau vom Kurspersonal verkabelt Lautsprecherboxen mit einem Laptop. Aus den Boxen kommt eine Stimme. Die Frau drückt eine Taste auf dem Laptop, die Stimme verstummt. Die Frau steigt auf einen Stuhl und dreht sich zu uns. „Guten Abend!“, ruft sie und der Geräuschpegel sinkt abrupt. Sie hüpft vom Stuhl. „Herzlich Willkommen!“, sagt sie. „Ich bin Maria, eure Kursmanagerin. Wenn Fragen oder Probleme auftauchen, kommt zu mir. Habt ihr alle eure Zimmer gefunden?“ 

Vanessa, Alex und ich nicken uns gegenseitig zu, auch andere Frauen nicken, manche rücken ihre Stühle zurecht oder trinken von ihrem Tee.

„Vorne neben der Stubentür ist eine Pinnwand mit Infos zum Kurs und zu Vipassana. Dort hängt auch der Zeitplan und wir werden immer wieder aktuelle Hinweise anbringen. Hier in der Stube gibt es um 6 Uhr 30 das Frühstück, um 11 Uhr das Mittagessen und um 17 Uhr die Teepause. Bitte seid pünktlich und seht zu, dass ihr zeitgerecht mit dem Essen fertig seid, damit die Leute aus der Küche genug Zeit zum Putzen haben.“ Sie zeigt zur Tür gegenüber. 

„Ihr werdet nun den Einführungsvortrag hören. Damit alles richtig rüberkommt und nichts vergessen wird, kommt er vom Band. Hier werden wir ihn auf Deutsch abspielen. Auf Englisch läuft er in einem Raum über dem Frauentrakt 1. Will jemand den Vortrag in einer anderen Sprache hören? Es ist wichtig, dass ihr ihn in eurer Erstsprache hört. Wir haben MP3-Player und die Audiodatei in vielen Sprachen.“ 

Ein paar Frauen melden sich, eine möchte den Vortrag auf Russisch hören, eine andere auf Türkisch. Sie werden aus der Stube geführt. Die meisten Frauen bleiben hier, es geht los.

„Wir führen hier kein Ritual durch“, spricht eine tiefe, ruhige Stimme aus den Lautsprechern. 

„Wir sind keine organisierte Religion“, sagt sie.

Eine Frau kneift die Augen zusammen.

„Wir sollen nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen, keinen Sex haben und keine Drogen nehmen.“

Eine Frau zieht die Augenbrauen nach oben.

„Wir werden lernen, Kontrolle über unseren Geist, unser Gehirn, unsere Konzentration zu haben.“ 

Eine Frau rümpft die Nase.

„Wir werden unseren Atem beobachten, wie er ein- und ausströmt.“ 

Eine Frau zieht die Mundwinkel nach oben. 

„Wir werden das Elend durchbrechen.“

Eine Frau putzt sich die Nase.  

„Kein Verlangen, keine Abneigung.“

Eine Frau fährt mit der Zunge über die Oberlippe. 

„Wir sollen andere nicht stören.“ 

Eine Frau kratzt sich hinterm Ohr. 

„Wir werden uns verwandeln.“ 

Vanessa öffnet den Reißverschluss ihrer Jacke, zieht sie über ihren Rücken nach unten und verrückt dabei den Stuhl ein wenig. Die Holzbeine rutschen über den Boden. Es knarzt. Sie streckt beide Arme nach unten und streift die Ärmel ab. Es raschelt. Ich verstehe die Stimme nicht und dann ist es still. Die Kursmanagerin tritt vor uns und sagt: „Das war’s fürs Erste, habt ihr noch Fragen?“

Nach einer kurzen Pause sagt sie: „Jeden Abend gibt es einen Vortrag von Satya Narayan Goenka. Wenn es euer erster Kurs ist, müsst ihr die Vorträge in eurer Erstsprache hören. In der Meditationshalle laufen die Vorträge auf Deutsch, im Raum über dem Frauentrakt 1 auf Englisch, für andere Sprachen kommt bitte zu mir. An der Außenwand hängt eine Liste, in die ihr euch eintragen könnt, wenn ihr in der Mittagspause mit der Assistenzlehrerin sprechen wollt. Ich wünsche euch einen guten Kurs! Kommt zu mir, wenn es etwas gibt. Haltet euch an die edle Stille, kommuniziert nicht miteinander. Nutzt die Zeit! Jetzt machen wir eine kurze Pause und um 18 Uhr treffen wir uns zu einer gemeinsamen Meditation. Danach wird dann nicht mehr gesprochen.“

 

Aussichten

Ich gehe am Parkplatz vorbei, weg vom Hof, die Straße entlang, ein Stück den Berg hinauf. Bei der nächsten Biegung bleibe ich stehen und schaue auf Berggipfel. Die Spitzen sind mit Schnee bedeckt. Unten ziehen sich Täler in die Ferne. Dazwischen die Baumgrenze. Ich gehe ein paar Schritte rückwärts. Ein Baumstumpf neben der Straße, ich setze mich und blicke Richtung Tal. Fichtenwälder wechseln mit grünen Wiesen. Da und dort Häuser. Und Hütten. Unten das Dorf. Direkt unter der Wiese, die zum Hof gehört, verläuft ein matschiger Weg mit Spuren von breiten Reifen. Gerade kommen Schafe diesen Weg entlang. Sie nähern sich in Grüppchen, blöken, wechseln von einem Grüppchen zum nächsten, rempeln einander an. Unter ihnen einige Jungtiere und zwei, drei vier, fünf, sechs schwarze Schafe. Ich ziehe die Mundwinkel nach oben und sage: „Mäh.“ Dann probiere ich es noch einmal mit weit geöffnetem Mund: „Mäh.“ Mit ein wenig Abstand folgen zwei humpelnde Tiere und ein weiteres schwarzes Schaf. Der Weg ist mit einem Holzzaun begrenzt und führt direkt in den Stall, gleich neben der Wiese. Wahrscheinlich kommen sie jeden Tag um die gleiche Uhrzeit zurück. Ich greife zu meiner Hosentasche, aber das Smartphone habe ich ja nicht mehr. Ist es schon 18 Uhr? Sie läuten bestimmt wieder einen Gong, wenn es weitergeht. Hoffentlich habe ich den kleinen Funkwecker wirklich eingepackt. Ich muss ihn nachher einstecken. Was hat Thea geschrieben? Ob ich mich auf ein Podium setze? Werde ich das jemals wieder können? Jemand steckt entlang des Holzzauns Stäbe in die Erde. Ich glaube, es ist Franzi, die hinterher geht und die Stäbe mit einem weißen Band verbindet. Sie haben weiter oben mit dieser Arbeit begonnen, neben dem Eingang zu unserem Schlaftrakt ist das Band an einem Blumenkasten an der Hauswand geknotet. Es ist keine große Fläche, die sie da eingrenzen. Aber es wird wohl reichen, um sich in den Pausen ein bisschen zu bewegen. Aus der Scheune kommt eine Frau mit einem Gong in der Hand. Ich stehe auf und gehe zurück zum Hof. 

 

Meditationshalle

Die Absperrung verläuft auf Hüfthöhe, ich steige darüber. Vor der Scheune sammeln sich einige Frauen. Vanessa kommt dazu. „Das ist die Meditationshalle“, sagt sie. Die Scheune und das Haus, in dem unser Schlaftrakt ist, bilden einen langen Gang. Weiter hinten versperren über zwei Meter hohe Metallgitter den Durchgang. „Vorhin waren die noch nicht da“, sage ich. Sie sind mit dunklen Planen verhangen. „Auf der anderen Seite befindet sich der Männerbereich“, sagt Vanessa.

Aus der Halle dringt eine Stimme: „Vanessa Nebenbauer“. Vanessa stellt ihre Schuhe in dem weißen Zelt ab, das vor dem Eingang aufgebaut ist, und geht in die Halle. Die nächste Frau wird aufgerufen. Alex stellt sich neben mich und sieht mich von der Seite an. Mein Name wird aufgerufen, ich hebe den Kopf, schaue dann wieder zu Alex. „Toi toi toi“, sagt sie. „Danke, dir auch“, sage ich und gehe in das weiße Zelt. Am Boden liegt ein dicker Teppich. Ich ziehe die Schuhe aus. Ein Flügel der Tür zur Halle ist mit einem Stein fixiert. Ich  betrete die Halle. 

Die Fenster sind mit Stoff verhängt. Ein paar Lampen sind eingeschaltet, geben gedimmtes Licht. Die Kursmanagerin kommt auf mich zu. Sie überprüft meinen Namen auf ihrem Clipboard und zeigt auf meinen Sitzplatz in der fünften Reihe: eine von vielen quadratischen Matten. Ich gehe den sehr schmalen Gang entlang. Wie in einem Turnsaal liegen die Matten nebeneinander. Ich setze mich. Die Frau mit den langen schwarzen Haaren sitzt links vor mir. Vanessa sehe ich nirgends. Alex kommt in die Halle, ihr wird ein Platz weiter hinten zugewiesen. An der vorderen Seite der Halle wird eine Tür von außen geöffnet, Tageslicht fällt herein. Eine in weiß gekleidete Frau kommt herein und setzt sich im Schneidersitz auf eines der beiden kleinen Podeste vorne in der Halle. Sie sitzt aufrecht und wirkt ruhig. Sie beachtet uns nicht. Hat sie ihre Augen geschlossen? Wieder fällt Tageslicht herein, ein Mann betritt die Halle und setzt sich auf das zweite Podest ein Stück neben der Frau. Die Kursmanagerin schließt die Tür zum Zelt, geht nach vorne, hebt das Clipboard leicht an und nickt der Frau auf dem Podest zu. Auf der anderen Seite nickt ein Mann mit einem Clipboard dem Mann auf dem Podest zu. Dieser dreht sich zur Seite und aktiviert ein Tonband: „Suchende des Friedens und der Harmonie“, spricht eine Stimme.

Eine Teilnehmerin rückt ihren Sitzpolster zurecht.

„Wir alle regen uns auf, sind beunruhigt, betrübt. Wie kann es Frieden geben, wenn der Geist aufgeregt ist?“

Ich richte meinen Oberkörper auf.

„Der Gegenstand der Konzentration, des Bewusstseins, ist Ihr eigener Atem. Der Atem ist da. Er ist immer bei Ihnen.“

Die Frau neben mir stellt einen kleinen Funkwecker vor sich. Jetzt habe ich meinen Wecker tatsächlich nicht aus dem Zimmer geholt.

„Ohne Anstrengung, ganz natürlich. Der Atem, der einströmt, der ausströmt, durch das eine oder durch das andere Nasenloch. Akzeptieren Sie, wenn der Geist abschweift. Kommen Sie wieder zum Atem zurück.“

Jemand hustet. Das Geräusch kommt vom Tonband, oder?

„Diese Meditationstechnik nennen wir Anapana. In einem zehntägigen Vipassana-Kurs ist es notwendig, drei Tage Anapana zu praktizieren.“

Die Kursmanagerin sitzt vorne, seitlich neben der Lehrerin, und schaut jetzt in unsere Richtung.

„Sitzen Sie bequem in einer Haltung, die Ihnen passt. Halten Sie Ihren Rücken und Ihren Nacken gerade. Halten Sie Ihre Augen sanft geschlossen. Wenn Sie eine Brille tragen, nehmen Sie die Brille für die Meditation ab. Halten Sie Ihren Mund sanft geschlossen. Konzentrieren Sie Ihre gesamte Aufmerksamkeit auf den Bereich am Eingang der Nasenlöcher.“

Ich lege meine Brille vor mir ab und schließe die Augen.

„Bleiben Sie achtsam auf jeden Atemzug, der einströmt, der ausströmt. Fangen Sie an.“

Ich atme ein. Ich atme aus. Ich atme ein. Durch das rechte Nasenloch strömt mehr Luft als durch das linke. Ich spüre die Luft, die am Rand des rechten Nasenlochs auftrifft. Ich atme aus. Ich atme ein. Der Bauch dehnt sich aus. 

„Bleiben Sie fortwährend achtsam auf den Atem, den einströmenden Atem, den ausströmenden Atem.“

„A-tem“ forme ich mit den Lippen, mit nach oben gezogenen Mundwinkeln und noch einmal mit weit nach unten gezogener Unterlippe: „A-tem“.

„Halten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf den Eingang der Nasenlöcher.“

Wie lange sind wir nun schon hier? Ich öffne die Augen und schiele nach links. Ich kann die Ziffern am Wecker nicht erkennen.

„Einströmender Atem. Ausströmender Atem.“

Ich atme ein. Es pulsiert im Bereich unter den Nasenlöchern, über der Oberlippe. Auch in den Fingerkuppen spüre ich den Puls. Hätte ich Thea antworten sollen? Nun weiß sie ja Bescheid, wann ich zurück sein werde. Hätte ich ihr erzählen sollen, wo ich hinfahre?

„Machen Sie weiter, arbeiten Sie, jeden Tag. Die Ergebnisse werden kommen. Mögen Sie glücklich, friedvoll und von allem Leiden befreit sein. Mögen alle Wesen glücklich, voller Frieden und vom Leiden befreit sein“, sagt die Stimme vom Band. Sie singt jetzt.

 

Gute Nacht

Ich nehme den Folder mit den Teilnahmebedingungen vom Nachttisch. Auf der Rückseite ist der Zeitplan abgedruckt. Sie wecken uns um vier Uhr. Dann wird erst einmal zwei Stunden meditiert.

„Gute Nacht“, flüstert Alex.

Ich lege den Folder zurück auf den Nachttisch und nicke ihr zu. 

Das ist jetzt eigentlich nicht mehr erlaubt, dass wir kommunizieren, oder?

Die Frau mit den langen schwarzen Haaren kommt aus dem Bad und legt sich in Bett D. 

Ich werde sie Daniela nennen. Ich drehe mich zur Wand und mime mit nach oben gezogenen Mundwinkeln: „Da-“.


Tamara Imlinger ist Schriftstellerin, Historikerin, Vermittlerin, Musikerin, schreibt Prosa, Dramolette, Miniaturen auf Postkarten, tritt mit Kolleginnen als Salon Limusin auf. tamaratrackt.at // salonlimusin.at

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