Arbeit neu denken

“Weniger ist mehr!”, denken sich heute immer mehr Menschen in Bezug auf ihren Beruf. Doch warum ist das so? Wie gehen Menschen mit dieser Einsicht um? Und reicht es, einfach nur die Arbeitszeit zu reduzieren? Einige Gedanken zur Einordnung.

Brennen (und Ausbrennen) für den Job war gestern. Längst verschieben sich die Perspektiven auf das Thema Arbeit aufseiten und zugunsten derer, die sie auch leisten. Die Untertan*innenmentalität ist Geschichte, der Wendung ‘Dienst nach Vorschrift’ haftet heute kein negativer Beigeschmack mehr an. Menschen, die ihrer Arbeit zwar einen wichtigen, aber nicht den zentralen Stellenwert in ihrem Leben einräumen, sind im Jahr 2022 keine “Owizahra” mehr. Im Gegenteil, sie haben ihre Work-Life-Balance im Griff und verstehen, dass Geldverdienen kein Selbstzweck, sondern notwendiges Übel in einer durchökonomisierten Welt ist.

 

Antiquierte Arbeitsmoral

Doch der Reihe nach: Wenn wir über Arbeit und deren Relevanz für die Menschen sprechen, müssen wir ein bisschen in die Geschichte zurückschauen. Lange Zeit galt in Europa und in den durch den europäischen Kolonialismus geprägten Teilen der Welt (u.a. auch in den USA) die so genannte ‘protestantische Ethik’ als leitende moralische Einstellung gegenüber der eigenen Arbeit. Schon vor über hundert Jahren beschrieb der Soziologe Max Weber in seinem Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus diese Moralvorstellung von Arbeit: In der Tradition Martin Luthers werde Arbeit als nicht zu hinterfragende Pflicht gegenüber Gott und somit als Zentrum des menschlichen Lebens betrachtet. Weber kritisierte, dass die protestantische Ethik in dieser Form nicht Weiteres sei, als ein wesentliches Herrschaftsinstrument des ab dem 16. Jahrhundert aufkeimenden Kapitalismus. Obwohl Max Weber keineswegs dem Kommunismus zuneigte, zeigt sich in der Auswahl seiner Forschungsinteressen und der Verwendung bestimmter Begriffe sein Bezug zu Karl Marx, was ihm auch den Spitznamen “bürgerlicher Marx” einbrachte. Über die Einstellung zur Arbeit Anfang des 20. Jahrhunderts schreibt Weber (S.23):

“[J]ener eigentümliche, uns heute so geläufige und in Wahrheit doch so wenig selbstverständliche Gedanke der Berufspflicht: einer Verpflichtung, die der einzelne empfinden soll und empfindet gegenüber dem Inhalt seiner ‘beruflichen’ Tätigkeit, gleichviel worin sie besteht, gleichviel insbesondere ob sie dem unbefangenen Empfinden als reine Verwertung seiner Arbeitskraft oder gar nur seines Sachgüterbesitzes (als ‘Kapital’) erscheinen muss: – dieser Gedanke ist es, welcher der ‘Sozialethik’ der kapitalistischen Kultur charakteristisch, ja in gewissem Sinne für sie von konstitutiver Bedeutung ist.”

Wichtig an dieser Analyse ist heute vor allem die Einsicht, dass weder die beschriebene moralische Einstellung zur Arbeit noch das kapitalistische Produktionssystem naturgegeben sind. Beide Phänomene sind menschheitsgeschichtlich relativ junge Erscheinungen und damit selbstverständlich hinterfragbar und auch änderbar.

 

Echtes und inneres Kündigen

Die Weberschen Erkenntnisse über sie Rolle religiöser Moralvorstellungen im Kapitalismus prägen die veränderten Sichtweisen auf Arbeit von heute mit. Dazu trägt auch die sinkende Bedeutung von Religion im Alltag der Menschen bei. Spätestens mit der COVID-Pandemie setzte sich bei immer mehr (jungen) Menschen die Einsicht durch, dass Arbeit nicht alles ist im Leben und dass auch das Privatleben, vor allem aber die eigene Gesundheit wichtig ist. Ein erstes Aufflackern dieser Erkenntnis wurde Anfang 2021 in einem Phänomen deutlich, das als Great Resignation – zu deutsch etwa: das große Kündigen – bezeichnet wird. Es beschreibt einen Trend, der eine große Anzahl an Arbeitnehmer*innen aufgrund stagnierender Löhne, fehlender Aufstiegsperspektiven, unflexibler Homeoffice-Regelungen und generell andauernder Unzufriedenheit dazu bewog, ihre Jobs aufzugeben. Besonders Angestellte in der Pflege, im Tourismus oder im Bildungsbereich waren an dieser Kündigungswelle beteiligt. Das große Kündigen nahm seinen Ausgangspunkt in den USA und schwappte schließlich auch nach Europa und Österreich über. Studien zeigen, dass weltweit bereits 40% der Arbeitnehmer*innen überlegen, ihren Job zu kündigen. Demgegenüber nehmen sich die 25%, die in Österreich einem Jobwechsel offen gegenüberstehen, geradezu bescheiden aus.

Auch ein anderes, unlängst medial ausführlich besprochenes Phänomen hängt mit dieser Bereitschaft zur Kündigung zusammen: Der Begriff Quiet Quitting (auf deutsch: stille Kündigung) wurde im Juli dieses Jahres vom TikToker Zaid Zeppelin populär gemacht. Er bezeichnet kurz gesagt die Tatsache, dass man als Arbeitnehmer*in nur das leistet, wofür man auch bezahlt wird. Das bedeutet: Keine Mails nach Feierabend beantworten und keine Anrufe am Wochenende annehmen. Keine besonders radikale Idee, möchte man meinen. Angesichts mehr als 190 Millionen in Österreich geleisteter Überstunden im Jahr 2021 aber wohl doch radikaler, als es scheint. Im Unterschied zur ‘Great Resignation’ wird hier nicht wirklich gekündigt, sondern auf Dienst nach Arbeitsvertrag zurückgeschraubt. Die Motive sind jedoch ähnlich wie zuvor beschrieben, und auch die Ziele – mehr Freizeit und weniger Stress – überschneiden sich.

 

Reduktion alleine reicht nicht

Wie wirken sich die genannten Veränderungen der Arbeitsethik auf die Arbeitsmarkt aus? Natürlich verändert sich damit auch die Arbeitswelt grundlegend und nachhaltig. Betriebe finden schwieriger Angestellte, müssen also ihr Angebot umstellen. Moderne Unternehmen reagieren mit Arbeitszeitreduktion (z.B. der Einführung der 4-Tage-Woche), flexibleren Arbeitszeiten, besserer Kinderbetreuung und höheren Löhnen. Aber reicht das aus? Was braucht es sonst, damit westliche Gesellschaften weiterhin produktiv sein und einen zufriedenstellenden Lebensstandard erreichen können? Jedenfalls mehr als ein paar politische Maßnahmen. Weber hat nicht umsonst von der “kapitalistischen Kultur” gesprochen, Veränderungen müssen also tiefer greifen als nur auf den Bereich der Wirtschaftspolitik. Es braucht einen grundlegenden kulturellen Wandel in Bezug auf unsere Lebensweise. Nicht nur müssen wir anders produzieren und konsumieren, wir müssen unsere Formen des Tätigseins insgesamt hinterfragen. 

Wie die Soziologin Frigga Haug in ihrem Konzept der Vier-in-einem-Perspektive darlegt, kommt in der Kritik klassischer Arbeitsverhältnisse vor allem ein gesellschaftlicher Konflikt um Lebenszeit zum Ausdruck, der die gesamte Gesellschaft und die darin herrschenden Machtverhältnisse infrage stellt. Haug schreibt (S.242f):

“Die zerlegende Organisation des Gesellschaftsprozesses – in den profitgetriebenen Erwerbsbereich, den ‘verweiblichten’ Reproduktionsbereich jenseits der Lohnform, die abgesonderte Politik in den Händen von ‘Stellvertretern’ – festigt die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse um den Preis der Verkümmerung und Vergeudung menschlicher Talente. Diese Verknotung von Herrschaftsverhältnissen aufzulösen, ist das Projekt der 4-in-1-Perspektive. Werden die Bereiche anders verknüpft, ändern sie sich auch qualitativ. Indem eine solche Veränderung durch die Vielen bewerkstelligt werden muss, löst sich deren einseitige Verwachsenheit mit einer bestimmten Funktion, der alles andere untergeordnet ist. Die spontane Geringschätzung der Reproduktionstätigkeiten als ‘nicht wirklich Arbeit’ wird in Wertschätzung umschlagen, sobald sie Teil des eigenen Lebens sind. Den Freiraum für die Entwicklung seiner selbst zu erstreiten, arbeitet gegen die permanente sektorale Einspannung.”

In diesem Absatz ist schon viel gesellschaftspolitisches Programm enthalten. Wer sich intensiver mit Haugs Ideen beschäftigen will, sei hiermit herzlich dazu eingeladen. Die Erkenntnis aus ihren Ausführungen ist klar: Wir müssen nicht alle Teilzeitkräfte in Vollzeit bringen, um ihnen die Pensionen zu sichern. Das wäre wieder nur eine Anpassung der Menschen an die kaputten Strukturen. Nur umgekehrt wird ein Schuh daraus. Zentral für die Anpassung der Arbeitswelt an die in Phänomenen wie ‘Great Resignation’ und ‘Quiet Quitting’ verpackten Bedürfnisse der Menschen ist eine radikale Umdeutung des Stellenwertes von Lohnarbeit. Nur so können sich auch die Machtlosen vom Zwang der Ausbeutung befreien. Das scheinen immer mehr Menschen – mehr oder weniger bewusst – zu erkennen. Viele merken heute, dass ihre wertvolle Zeit auf der Welt ein endliches Gut ist. Diese wollen sie anders verbringen, als nur mit Erwerbsarbeit. Auch für Familie und Freund*innen, die Gemeinschaft und sich selbst wollen Menschen Zeit haben. Unsere Zeit auf der Welt ist begrenzt. Also füllen wir sie nicht mit Arbeit, sondern mit Leben. Und zwar nicht nur für die paar Privilegierten, sondern für alle.

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